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Sonia Seneviratne: «Unsere Klimaszenarien werden real»

Sonia Seneviratne, geboren 1974, ist Professorin für Land-Klima-Dynamik an der ETH Zürich, Coordinating Lead Author im nächsten Sachstandsberichts des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Gletscher-Initiative.

Du bist Professorin für Land-Klima-Dynamik. Was ist das genau?

Ich erforsche Prozesse, die das Klima auf den Kontinenten beeinflussen – Klimaextreme, Trockenheiten, die Rolle der Vegetation oder von Binnengewässern. 

In der öffentlichen Wahrnehmung war 2020 vor allem das Jahr der Pandemie. Aber es war auch das weltweit heisseste Jahr seit Messbeginn. Wie hast du als Spezialistin für Klimaextreme das Jahr 2020 wahrgenommen?

Es war ein extremes Jahr. Das begann schon mit den Wald- und Buschbränden in Australien ziemlich apokalyptisch. Es gab weltweit viele Hitze- und Feuerereignisse. In Sibirien herrschte lange Zeit ungewöhnliche Hitze, und mit 38 Grad wurde ein Hitzerekord für Regionen nördlich des Polarkreises erreicht. Die Welt beginnt auszusehen, wie es unsere Klimaszenarien vorhergesagt haben. Bisher äusserte sich die Klimaveränderung vor allem dadurch, dass extreme Ereignisse, die es auch ohne die menschgemachte Klimaerwärmung gab, häufiger auftraten. Jetzt aber haben wir es mit Phänomenen zu tun, die ohne den Einfluss des Menschen praktisch ausgeschlossen wären – wie wir es am Beispiel der Hitzewelle in Sibirien zeigen konnten. 

Die Welt beginnt auszusehen, wie es unsere Klimaszenarien vorhergesagt haben.

Wie fühlt sich das an? Man warnt – und plötzlich tritt ein, wovor man gewarnt hat? 

Es ist einfach traurig. Wir haben informiert, aber wir wurden kaum gehört. Die Treibhausgasemissionen gehen nicht zurück und die CO₂-Konzentrationen in der Atmosphäre steigen weiter .

Viele Länder haben in den letzten zwei Jahren Netto-Null-Emissionsziele beschlossen; die USA sind seit dem Machtwechsel zurück auf der klimapolitischen Bühne. Können wir also optimistisch sein?

Ich bin vorsichtig optimistisch. Ja, die Lage sieht viel besser aus als nur schon vor ein paar Wochen. Aber wir müssen schauen, was konkret daraus wird. Es gibt eine grosse Diskrepanz zwischen schönen Absichtserklärungen und dem, was tatsächlich passiert. Bisher sehe ich noch nicht, dass die Entwicklung in die richtige Richtung ginge. 

Der Bundesrat hat Ende Januar seine langfristige Klimastrategie bekanntgegeben. Sie sei ambitioniert, hiess es in den Medien.

Sie ist überhaupt nicht ambitioniert. Die Schweiz macht weniger als andere Länder, die weniger reich sind; die EU hat ambitioniertere Ziele. Die Schweiz hat eine Tradition, dass sie Vorbild sein will, und viele glauben, das entspreche der Realität. Aber die Schweiz ist schon lange keine Vorreiterin mehr. Mit ihrem Knowhow und ihrem Reichtum könnte sie viel mehr tun. 

Das IPCC schreibt in seinem 1,5-Grad-Spezialbericht von 2018, es brauche «system transitions» (Systemübergänge), um das Paris-Ziel zu erreichen. Was heisst das?

Ich war zwar eine Autorin des Spezialberichts von 2018, aber nicht vom Kapitel, das dieses Thema behandelt hat. Ich kann darum nur sagen, was ich darunter verstehe. Ich denke, es geht darum, dass es sowohl technischen wie auch gesellschaftlichen Wandel braucht. Wir müssen diese Systeme ändern; kleine Schritte genügen nicht. Was das konkret heisst, ist, dass wir keine Abhängigkeit von fossilen Energieträgern mehr haben sollen.

Viele schreckt die Vorstellung eines Systemwandels ab; sie sehen die Gefahr des Kommunismus …

Das ist Panikmache – wie auch die Behauptung, wir müssten in Zukunft kalt duschen. Es müssen sich einige Elemente der Wirtschaft und des Lebens verändern. Wir sollten grundsätzlich überlegen, wie wir die Gesellschaft gestalten können. Aber wir werden sicher nicht zu wenig Energie haben für ein gutes Leben. Und der Systemwandel wird nicht zu Lasten der Armen gehen müssen. In gewissen Bereichen ist es nicht so schwierig, die CO₂ -Emissionen loszuwerden, und es ist auch ökonomisch sinnvoll. Die erneuerbaren Energien sind heute sehr billig. 

Wir sollten grundsätzlich überlegen, wie wir die Gesellschaft gestalten können. Aber wir werden sicher nicht zu wenig Energie haben für ein gutes Leben.

Der Bundesrat will die Emissionen nicht auf null senken, sondern bis 2050 nur um etwa drei Viertel reduzieren. Die Rest-Emissionen sollen mit so genannten Negativ-Emissions-Techniken (NET) wieder aus der Luft geholt werden. Ist das sinnvoll?

Die Klimastrategie setzt nicht nur auf NET, sondern auch auf die so genannten Kompensationen im Ausland. Das heisst, die Schweiz zahlt andere Länder dafür, dass diese ihre Emissionen reduzieren, um selbst weniger reduzieren zu müssen. Das ist noch schlimmer als NET. 

Aber wir brauchen die NET doch sowieso?

Ja, auch die Szenarien, die das IPCC ausgewertet hat, rechnen mit solchen Techniken. Aber das Potenzial ist begrenzt, da geht es um 5 bis 10 Prozent, nicht um einen Viertel. Wir brauchen die NET, weil es in gewissen Bereichen fast unmöglich ist, null Emissionen zu erreichen – in der Abfallentsorgung oder in der Zementherstellung. Alle anderen Bereichen müssen wirklich aufhören, CO₂ zu emittieren. 

Ist nicht auch die Landwirtschaft ein Bereich, wo man kaum auf null Treibhausgasemissionen kommen kann?

In der Landwirtschaft ist vor allem die Viehhaltung ein Problem, und wieviel wir da erreichen, hängt stark davon ab, wie sich die Nachfrage nach Fleisch und Milchprodukten entwickelt. Aber ich mache mir da keine so grossen Sorgen. In der Viehzucht fallen vor allem Methanemissionen an. Methan ist zwar ein viel stärkeres Treibhausgas als CO₂, aber es baut sich viel schneller in der Atmosphäre als CO₂ ab. Darum müssen wir unsere Anstrengungen auf das CO₂ konzentrieren. 

Im Juni stimmen wir über das CO₂ -Gesetz ab. Es ist noch schwächer als die Klimastrategie. 

Das CO₂ -Gesetz ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber wir müssen klar sehen, dass es ein zu kleiner Schritt ist. Aber auch wenn es zu schwach ist, führt es neue politische Instrumente ein, mit denen man weiterarbeiten kann. Wenn es abgelehnt wird, machen wir dagegen einen Schritt in die falsche Richtung. Darum müssen wir das Gesetz unterstützen – aber auch klar sagen: Es genügt nicht. 

Du engagierst dich politisch, bist auf Twitter präsent, machst im Beirat der Gletscher-Initiative mit. Geraten wissenschaftliche Unabhängigkeit und politisches Engagement nicht miteinander in Konflikt?

Ich trenne schon, ob ich wissenschaftliche Erkenntnisse verbreite oder persönliche Meinungen. Aber mein Engagement im Bereich des Klimas sehe ich nicht als politisches Engagement. Wir Klimaforscherinnen und Klimaforscher sehen die grosse Krise, in der wir uns befinden. Wenn wir da nicht warnen würden, wäre das verantwortungslos. Wir müssen darauf hinweisen, dass zwischen den Absichtserklärungen der Politik und dem, was tatsächlich geschieht, ein grosser Graben klafft.